Eine kleine Geschichte

 

 

Um Mitternacht herum

 

Kalter, regennasser Nordwind trug das letzte Herbstlaub in die kleine enge Gasse der Altstadt. Einige Blätter verfingen sich in dem schmiedeeisernen Geländer des alten Puppenlädchens. Kurz nach Mitternacht strich eine schwarze Katze um die Laterne, deren warmgelbes Licht den kleinen Raum hinter dem Schaufenster erhellte. Plötzlich spitzte das Tier die Ohren, fuhr langsam die Krallen heraus, machte einen Buckel und stob mit aufgerichtetem Schwanz wie ein Blitz davon. Nach dem letzten Glockenschlag der alten Uhr des Kirchturms jammerten laute Stimmen in dem Laden - es hallte bis auf die Straße.

 

„Du meine Güte, geht das schon wieder los! Ruhe da hinten, ihr schlamperten billigen Fremdlinge. Jede von euch findet schnell ein zu Hause, davon können wir nur träumen, - was also gibt es da zu jammern!“

„Jede Nacht dasselbe, lass sie endlich in Ruhe, Alina, du weißt doch, das die nach Vanilleduftenden nur chinesisch verstehen!“ „Sie duften nicht, - die stinken!“

Mit zusammengekniffenen Augen riss Alina den Kopf hoch, schlug die Arme vor ihrer Brust zusammen und schmollte.

 

Oberhalb, aus dichtgedrängten Reihen unzähliger Puppen auf schmalen Regalen, in schimmernde Seide gehüllt, mit feinsten Lederschuhen an den Füßen, sah eine hochnäsig auf Alina herab.

„Ich werde unzweifelhaft bald gekauft, meine Macherin ist die Berühmteste. Ich bin ein absolutes „Muss“ für alle Sammlungen, für mich wird jeder Preis gezahlt.“

„Ja, ja, träum mal weiter Porzellanlady,“ meinte grinsend Laila, ein schlankes Mulattenpuppenkind, „bist genauso staubig wie wir alle.“

Zustimmende Rufe lärmten durch den kleinen Laden, selbst einer der Bären brummte: Wo sie recht hat, hat sie recht, was, alter Kumpel?“

„Die Begehrten von heute sind die Verschmähten von morgen,“ äußerte gleichgültig ein staubgrauer buckeliger Bär mit verblichener Schleife um seinen eingesunkenen Hals.

„Ich bin hier alt geworden, mein Schicksal wird das eure sein, wen kümmert’s schon!“

Eine unbehagliche Stille breitete sich aus. Selbst die ausländischen Babypuppen in einem antiken Stubenwagen vor dem Schaufenster waren plötzlich ruhig.

Zwischen zwei jeansbekleideten Vinylgeschöpfen rutschte das dicke Puppenmädchen Flo aufgeregt hin und her. Sie war noch nicht lange hier, ihr rotes Baumwollkleid, makellos sauber, ohne die kleinste Falte, reichte weit über speckige Knie. Ein wenig schüchtern schaute sie in die Runde und fragte mit leiser Stimme:

„Kann mir einer von euch sagen, warum mich die nette alte Frau den letzten Versuch nannte, als sie meine Macherin traurig anschaute?“

Alle Köpfe wandten sich schlagartig Flo zu, auch die Bären schauten neugierig herüber.

Hochmütig zog das Porzellanwesen die Augenbrauen hoch, strich affektiert über ihre blonden Schillerlocken und tönte herablassend: „Was bist du doch ein dummes Ding! Deine Macherin reicht an meine nicht heran, mit mir kannst du dich wie übrigens auch alle anderen hier nicht messen. Die Ladenbesitzerin will deinesgleichen sicherlich nur einmal zum Verkauf anbieten, Fräulein „letzter Versuch!“

Empört funkelte Alina die boshafte Puppe an:

„So ein Unsinn, dir ist wohl zu viel Kleber in den Kopf gelaufen, du kreuzdumme... Ach, ich weiß nicht was. Hast du immer noch nicht begriffen, - wir sitzen alle in einem Boot, egal, ob hübsch oder hässlich, groß oder klein, - uns will kaum noch ein Sammler, wir sind denen zu teuer!“

Flo senkte den Kopf, nestelte an der Borte ihres Kleidchens herum und äußerte zaghaft:

„Morgen sollt ihr zu Sonderangeboten werden, ganz billig!“ Sprachlos und verwirrt schaute sich die bunte Schar der Puppen an, aus dem Körbchen am Fenster war wieder leises Weinen zu hören.

„Niemals, das glaube ich nicht,“ schleuderte eine rassige schlanke Zigeunerpuppe Flo entgegen, „ich bin reserviert und werde bald abgeholt!“ Energisch streckte sie den Arm mit einem unleserlich gewordenen, vergilbten Zettel nach oben.

„Noch eine Träumerin, schon vergessen, du warst vor mir da!“ Spöttelte Laila und wirbelte demonstrativ ihren staubigen Lockenkopf herum.

„Könnt ihr dahinten endlich mal Ruhe geben, das ewige Geheule macht mich völlig verrückt!“

Wieder war es Isabella, die versuchte, das gereizte Puppenmädchen Alina zu beruhigen.

„Du würdest sicherlich auch weinen, wenn du dich so schnell wie die Kleinen da hinten von deinen Geschwistern trennen müsstest!“

Nachdenklich kratzte sie sich an dem verfilzten Kopf.

„Flo, woher weißt du das von den Sonderangeboten?“

„Die liebe alte Frau hat ganz komisch geschaut, sich die Augen gerieben und traurig zu meiner Macherin gesagt:

„Porzellan ist tot, Vinyle aus Europa zu teuer, nur die billigen Asiaten laufen mäßig erfolgreich. Ratenzahlung, zu unsicher, werde die Puppen ab morgen viel billiger machen müssen, auf Sonderangebote fliegen die meisten Kunden. Ach ja, - billig, billiger, - möglicht umsonst. Muss mein Geschäft wohl aufgeben, Computer und virtuelle Spiele sind auch nicht meine Welt. Erfolgreiche Jahre sind so gut wie vorbei, wird mir alles sehr fehlen.“

Sie hat mich in den Arm genommen, mir über das Haar gestreichelt und dabei gesagt: „Du bist endgültig mein letzter Versuch, kleine „Made in Germany,“ die Hoffnung stirbt zuletzt!“

 

Der alte Bär hob wackelig den Kopf, blickte mit staubtrüben Augen vor sich hin und brummelte:

„Begehrt, geliebt, ersetzt und vergessen, - doch hatten wir eine schöne Zeit!

Die Turmuhr schlug Eins. In dem alten Puppenladen war es wieder still und friedlich. Über dem romantischen Städtchen leuchteten die Sterne wie in der guten alten Zeit. Wachsam, auf leisen Sohlen schlich die schwarze Katze an dem Schaufenster vorbei und verschwand in dunkler Gasse.

Eine Träne kullerte über die kalte rosige Porzellanwange und tropfte auf schimmernde Seide.